Das erste mal traf ich Agulem beim Frühstück. Wir saßen uns gegenüber und ich wurde gebeten, ihn zu füttern.

Ich schätzte ihn nicht älter als neun. Seine etwas zu groß wirkenden weißen Zähne stehen leicht schief, seine kleinen kräftigen Händen tragen wulstige Narben. Wenn er seine Augen schließt, sieht man, dass einzelne Härchen der Brauen bis auf seine Lider wachsen. Die unteren Wimpern klappen so weit nach oben, dass einige Härchen den Augapfel berühren, die Pupillen schielen weit zur Seite.
Ich schob Agulem den Löffel mit Brei in den Mund und ein Stück Brot hinterher.

Seit zwei Monaten lebe ich in Bischkek, der Hauptstadt Kirgistans und arbeite als Freiwilliger im Kinderzentrum Ümüt-Nadjeshda, einer Bildungseinrichtung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. In der Schule des Zentrums bin ich für Agulems Betreuung zuständig.
Ich helfe ihm beim Essen und bei der Körperpflege, begleite ihn zu Therapien und beschäftige mich mit ihm. Agulem ist dreizehn Jahre alt, er sieht nahezu nichts und spricht nicht, sondern gibt nur Laute von sich, wie dadldadldadldadldadldadldadl, glaglaglaglaglaglaglaglaglagla und HANG! Er legt eine Hand an seinen Mund und die andere an sein Ohr und macht mongmongmongmongmongmongmong. Es ist nicht leicht zu sagen, wie viel er von dem was man ihm sagt versteht.

Vor sieben Jahren kam er in den Kindergarten des Zentrums. Seine Behinderung wurde wohl durch eine frühkindliche Hirnschädigung durch Sauerstoffunterversorgung bei der Geburt verursacht.

Dass ein behindertes Kind in seiner Familie aufwächst, ist in Kirgistan nicht selbstverständlich. Es ist üblich, mit einer Behinderung geborene Kinder unmittelbar nach der Geburt in Heime zu geben und diese Praxis hat eine lange Geschichte. Zu Zeiten der Sowjetunion wurde der Mutter noch im Krankenhaus ein Dokument vorgelegt. Mit ihrer Signatur bestätigte sie darin, sich von der Verantwortung für das Kind loszusagen.
Heute wird in Kirgistan keine Mutter mehr gezwungen, sich von ihrem Kind zu lösen. Dennoch geben viele ihr Kind freiwillig in Heime ab.

Die Gründe dafür sind nur bedingt ökonomischer Natur. Denn wie mir die Gründerin des Kinderzentrums, Karla-Maria Schälike, erzählte, gäben auch sehr viele wohlhabende Eltern, die sich eine adäquate Betreuung von Kindern mit Behinderung durchaus leisten könnten, ihre Söhne und Töchter in Heime, wenn eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung diagnostiziert wurde.

Mitverantwortlich ist dafür die Einstellung der kirgisischen Gesellschaft zu Menschen mit Behinderung, welche sich über die Zeit wenig verändert hat: Nach wie vor wird Behinderung als ein Defekt betrachtet. Eine Förderungsfähigkeit wird diesen Menschen abgesprochen.

Wer behindert geboren wurde oder in Folge einer Krankheit oder eines Unfalls mit einer Behinderung lebt, gilt als bildungsunfähig und erhält von staatlicher Seite keine Förderung. Dabei wird keinerlei Unterschied gemacht zwischen Kindern mit geistigen Beeinträchtigungen und Kindern, die mit einer körperlichen Behinderung leben, dem Unterricht in einer Regelschule aber eigentlich problemlos folgen könnten.
Selbst eine Fußfehlstellung kann Grund sein, dass der Zugang zu Bildung verwehrt wird.

Für Menschen mit Behinderung gibt es wenige Optionen, ihr Leben zu gestalten. Etliche von ihnen bleiben in Heimen. Noch in den 1990er Jahren war die Lage in den staatlichen Kinderheimen allerdings so schlimm, dass viele Kinder eine Unterbringung nicht überlebten. Kinder mit Behinderung bekamen dort keine Förderung und wenn der Wille an manchen Stellen dagewesen sein mag, fehlten schlicht die Kapazitäten, diesen Kindern die Unterstützung zukommen zu lassen, die sie benötigten.

Auch Agulem habe, wie mir ein ehemaliger Freiwilliger berichtete, wahrscheinlich eine Zeit lang in einem Kinderheim gelebt, in welchem es ihm nicht gut ging. Jener Freiwillige hat Agulem vor sieben Jahren im Kindergarten des Zentrums kennengelernt. Dort sei der Junge wiederholt mit Wunden erschienen, die er sich selbst zugefügt hatte. So habe er sich seine Hände oft blutig gebissen, die Narben auf seinen Fingerknöcheln scheinen dies zu bezeugen. Ich selbst habe ihn bisher nicht mit frischen Wunden gesehen. Agulem schlägt sich jedoch nach wie vor häufig auf den Kopf oder ins Gesicht. Dazu öffnet er den Mund und schlägt mit der geballten Faust auf den Kiefer.
Als ich das an meinem Kopf probierte, zuckte dieser zurück, wenn der Schlag den Kiefer traf. Agulems Kopf zuckt nicht.

Das Stehen und Gehen macht Agulem augenscheinlich Angst. Er klammert sich so an meinen Händen fest, dass es schwer ist, seine Finger von ihnen zu lösen. Seine Schritte sind klein, unsicher und hastig. Obwohl Agulem außer seiner Sehbehinderung keine körperlichen Einschränkungen hat, bewegt er sich nicht selbstständig fort. Setzt man ihn auf den Boden oder auf eine Bank, bleibt er an diesem Platz, bis er abgeholt wird.

Ich habe mich gefragt, wie wohl Agulems Raumvorstellung aussieht - Ob es sich dabei wohl eher um eine Ansammlung von Plätzen handelt? Die Matratze im Klassenzimmer, der Teppich, auf dem er oft liegt, der Platz am Esstisch, sein Stuhl im Morgenkreis, der Toilettensitz, die Bank vor der Schule, auf der er nach Schulschluss sitzt bis seine Mutter ihn abholt ... Die Verbindung dieser Plätze könnte ihm eventuell noch bewusst sein, was er jedoch nicht wahrnimmt, ist die sichtbare Weite eines Raumes. Es ist möglich, dass er keinerlei Vorstellung davon hat, was sich hinter der Bank, auf der er täglich sitzt, befindet.
Sein Raum ist vielleicht nur vielmehr der Boden, auf dem er steht und sitzt und liegt.

Interessanterweise lacht Agulem gerade dann besonders oft, wenn er den Bodenkontakt für einen Augenblick verliert: auf der Schaukel, auf dem Trampolin und auf dem Karussell zum Beispiel.

Spiegelung August 2016

Vieles was Agulem tut wirkt auf mich wie der Versuch einer Selbstversicherung seines Daseins im Raum – das Sich Schlagen und Beißen, Geräusche, die er von sich gibt und die nicht an Andere adressiert zu sein scheinen, sondern nur Geräusche seines Körpers sind, denen er lauscht, das Werfen seines Kopfes zu einer Seite, das so stark ist, dass man den Widerstand der Halswirbel hören kann und der Genuss, der ihm das Bewegen seines Körpers beim Schaukeln bereitet, wenn Fliehkräfte ihn seine eigene Körperhaftigkeit spüren lassen.

Was ich mit Agulem übe, ist das Stehen und Gehen. Er bekommt außerdem Therapien zur Sprachbildung und Reittherapie. Wir trainieren auch Toilettengänge, denn bisher trug Agulem immer Windeln. Seine Eigenständigkeit beim Essen soll gefördert werden, indem der Löffel in seine Hand gegeben und nur sein Arm geführt wird. Gehör, Gleichgewichtssinn und Tastgefühl sollen trainiert werden, momentan orientiert sich Agulem in erster Linie an seinem Geruchssinn.

Bei alledem benötigt Agulem sehr viel Assistenz. Aber ich beobachte kleine Fortschritte. Es ist schön, zu sehen, dass Agulem seinen Löffel mittlerweile etwas eigenständiger hält. Dass er öfter Schritte im Zimmer allein geht, dass er öfter die Toilette benutzt als noch vor zwei Monaten.

Kürzlich habe ich allerdings erfahren, dass Agulem einmal selbstständig essen konnte. Das hat mich sehr gewundert, da er das eigenständige Essen heute wieder üben muss und ich habe mich gefragt, was die Gründe für sein Vergessen sein könnten.

Sein Vergessen hängt möglicherweise auch damit zusammen, dass er von Freiwilligen betreut wird. Das mag den Vorteil mit sich bringen, dass eine große Aufmerksamkeit für ihn gewährleistet ist. Gleichzeitig aber geht damit für ihn ein jährlicher Wechsel der Bezugsperson einher. Wenn ein Freiwilliger seinen Dienst beginnt, ist sein Vorgänger in der Regel bereits abgereist, eine wirkliche Übergabe findet selten statt. Übungen und Ansagen können deswegen nicht nahtlos weitergeführt werden.

Diesen Umstand halte ich für problematisch. Ich denke, um Agulems Eigenständigkeit zu fördern benötigt es eine konstante Struktur in seinem Tagesablauf. Ändert sich die Struktur oder wird sie nicht konsequent eingehalten, können bereits erlangte Fähigkeiten offensichtlich sehr schnell wieder verloren gehen.

Ich beobachte aber auch, dass es mir selbst zuweilen nicht gelingt, den Tagesablauf einzuhalten, zum Beispiel weil andere Kinder sehr viel Aufmerksamkeit einfordern oder an anderen Stellen im Kinderzentrum Hilfe benötigt wird. Die Gruppe, in der ich arbeite, besteht derzeit aus zwei Klassen. Drei Erzieherinnen und zwei Freiwillige betreuen elf Kinder im Alter von neun bis fünfzehn Jahren mit unterschiedlichsten Behinderungen, darunter Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, die nicht aus den Augen gelassen werden können.

Agulem ist ein ruhiges Kind. Man kann ihn in eine Ecke setzen, ohne befürchten zu müssen, dass er wegläuft. Für einen Betreuer ist es in stressigen Situationen dann manchmal einfacher ihm Windeln anzuziehen, anstatt aller zwei Stunden mit ihm die Toilette aufzusuchen und dort fünfzehn Minuten auf ihn zu warten. Es geht schneller, ihn zu füttern, anstatt zu warten, bis er den Löffel selbstständig bewegt oder ihn im Rollstuhl zu schieben, anstatt ihn kleine Schritte gehen zu lassen.

Dabei mag man es gut mit ihm meinen, aber man gibt ihm doch nicht die Zeit, die er bräuchte, eigenständiger zu gehen oder zu essen und verhindert eine Entwicklung, indem man ihm zu vieles abnimmt.

Mir scheint, es geht bei der Arbeit mit einem behinderten Menschen also gar nicht nur um die Vermittlung eines Wissens, sondern auch um dessen Erhalt – und der Erhalt kann sich wesentlich schwieriger gestalten, weil es eine Geduld mit dem Menschen und dem Tempo seiner Schritte voraussetzt. Eine solche Geduld kann für den Betreuer sehr unökonomisch sein, er muss warten, das kostet Zeit und manchmal kann er sie sich vielleicht gar nicht leisten, weil auch andere Menschen auf seine Hilfe angewiesen sind.
Das ist dann möglicherweise die Kehrseite einer Hilfeleistung: Eine Vernichtung von Wissen um Eigenständigkeit durch Überfürsorge.
Da es unwahrscheinlich ist, dass Agulem jemals eine wirkliche Selbstständigkeit erreichen wird, bleibt er angewiesen auf die Menschen, die ihn versorgen und das richtige Maß an Fürsorge finden müssen.

Zu Beginn meiner Arbeit mit Agulem hat mich diese Asymmetrie in unserem Verhältnis und in meiner Hilfeleistung sehr irritiert. Da er nicht spricht und Bedürfnisse und Widerwillen nicht klar äußert, hatte ich das Gefühl, dass mir die Rolle einer Instanz zufällt, der er in einer Weise ausgeliefert ist. - Ich bin es, der bestimmen kann, wann er auf Toilette geht und wie lang, wann er essen kann und wie viel, ich kann ihm einen Platz zuweisen und ihn an einen anderen Platz bringen. Und ich sehe ihn, ohne von ihm gesehen zu werden.


Geöffneter rechter Flügel August 2016

Mir schien, dass ich so in der Position einer unsichtbaren Macht bin, welcher er nur glauben kann, dass sie vertrauenswürdig ist. - Glauben würde an dieser Stelle eine Auslieferung bedeuten: Ohne Wissen und Sicherheit und im bloßen Vertrauen auf meine Glaub-würdigkeit muss Agulem glauben, weil er aufgrund seiner Behinderung eingeschränkt ist, zu über-blicken und zu durchschauen.
Vor kurzem jedoch hatte ich einen Traum, in dem dieses Verhältnis auf interessante Weise verkehrt war: Agulem war unsichtbar. Ich konnte mit ihm allein durch den Deckel einer Pappschachtel in Verbindung stehen, die ihn in einer Weise vertrat. Dieser Deckel fiel mir in einen See, er ging unter und weichte auf. Ich wusste nun nicht mehr, wie ich Agulem finden sollte – ich konnte ihn ja nicht sehen. Es machte auch keinen Sinn, ihn zu rufen, denn in der Regel antwortet Agulem nicht auf Ansprache.
So war ich gewissermaßen selbst blind für Agulem.

In seinem Text “Behinderung und die Ideologie des Normalen” macht der Schriftsteller und Schauspieler Peter Radtke, selbst mit einer Behinderung lebend, auf die Behinderung jedes Einzelnen aufmerksam. Nicht-Behinderung sei, seiner Ansicht nach, nur ein Augenblick und niemals ein Zustand, denn sie stelle im Grunde nur jene Situationen dar, in denen ein Mensch vollkommen eigenständig und in Unabhängigkeit von Anderen agieren kann. Radtke weist darauf hin, dass diese Situationen nur einen gewissen mehr oder weniger kleinen Teil jeden Lebens ausmachen.
Sich selbst die Abhängigkeiten zu verdeutlichen, in denen man lebt und die eigenen Einschränkungen anzuerkennen, könne dann auch die Perspektive des Behinderten im Vergleich zu jener der Nicht-Behinderten als alternative und nicht als defekte „normale“ bewusst machen.

Begreift man Blindheit im übertragenen Sinne als Unfähigkeit, die Perspektive eines anderen einzunehmen, wäre es nicht falsch zu sagen, dass wir, Agulem und ich, tatsächlich beide blind sind - auf unterschiedliche Weise.
Denn so wenig wie er mich sieht, kenne ich seine Perspektive, seine Wahrnehmung. Ich habe keine Vorstellung davon, was in seinem Kopf vorgeht.

Das machte mir besonders zu Beginn Agulems Verhalten sehr fremd und unverständlich.
Einmal gab mir die Lehrerin eine Kiste mit einem kleinen Ball, einem Stück Kunstrasen und einem Kissen. Agulem sollte diese Gegenstände betasten. Ich nahm seine Hand und führte sie über die unterschiedlichen Oberflächen. Immer wieder zog er seine Hand zurück und ich ärgerte mich über ihn, weil das Spiel nicht funktionierte, weil er nicht reagierte und nicht mitmachte. Was ich vermisst habe war eine Antwort von ihm, in Form eines Lautes oder einer Bewegung, irgendeine Reaktion – und jetzt erst fällt mir auf, dass ich das Zurückziehen seiner Hand nicht als Antwort akzeptiert habe. Warum? Wahrscheinlich war es so, dass ich die Reaktion Agulems nicht verstanden habe, weil sie nicht dem entsprach, was ich als Antwort erhofft hätte: nämlich eine Bereitschaft zur Beteiligung.
Ich schloss daraus vorschnell, dass man von ihm keine Antworten bekommt und wusste auch nicht, ihm Antworten zu geben, weil ich seine Äußerungen nicht deuten konnte.
Wenn man die Lautsprache und obendrein die Körpersprache eines Menschen nicht versteht, kann das zu der Annahme führen, dass dieser Mensch gar nicht kommuniziert, dass er sein Umfeld nicht wahrnimmt und seine Empfindungen und Bedürfnisse diesem Umfeld überhaupt nicht mitteilt.

Milchglasscheibe November 2016

Meine Arbeit mit Agulem führt mir deutlich vor Augen, dass das ein großer Trugschluss sein kann. Ich denke, dass seine Äußerungen in Form von Lauten und Bewegungen eine ganz andere Qualität haben, die für mich schwer vorstellbar ist. Und ich meine auch, dass seine Laute keinen direkten Adressaten kennen, sondern vielleicht in erster Linie tatsächlich an ihn selbst gerichtet sind – quasi als eine Art Versicherung seiner selbst.
Aber ich glaube, dass das Gefühl des Unverständnisses zum großen Teil an einer “Blindheit” meiner selbst lag. Diese Blindheit hat weniger zu tun hat mit physiologischer Wahrnehmung, als vielmehr mit einer Bereitschaft, die Sicht des Anderen nachzuvollziehen. Was sich so mehr und mehr relativiert, ist das Bild des nicht-sprechenden Agulem. Sein Lachen zum Beispiel kann man nur schwer falsch verstehen. Äußerungen, wie ein Lachen, oder sich Schlagen mögen Reaktionen im Affekt auf momentane Situationen sein und darin, wie ich es beschrieben habe, unadressiert.
Es liegt jedoch, wie ich glaube, am Gegenüber, diese Äußerungen als ausschließlich selbstreflexiv aufzufassen, oder aber sie als Mitteilungen eines inneren Gefühlszustandes an die äußere Umwelt zu verstehen. Und hierin läge ja die Möglichkeit, sie aufzunehmen, sich anzueignen und sie als Aufforderung zu verstehen, zu antworten.

Ich weiß nicht, ob glaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglaglagla, HANG! und mongmongmongmongmongmong tatsächlich irgendetwas bedeuten. Manchmal versuche ich aber einfach darauf zu antworten, indem ich wiederhole. Und als ich so einmal dadldadldadldadldadl vor mich her sagte, fing auch Agulem damit an.

 

 

Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

simonbaumgart.blogspot.com

Fotos: Simon Baumgart

Fliegengitter / November 2016 
Spiegelung / August 2016
Geöffneter rechter Flügel / August 2016

Milchglasscheibe / Nobember 2016