Zu Olaf Wegewitz’ mikrokosmos

Oft hatte ich verdorrte Tage zu Gast,
ein Baum, des Blühens müde,
doch immer fand ich die Muse noch
und stand im Regen neuer Begierden.

Werner Makowski, Initiale

In der Camera silens der Jetztzeit ist es leicht, verloren zu gehen an sich selbst. Das Murmeln der Stille erhebt sich über dem Rauschen vorgegaukelter Notwendigkeiten; der Wahnsinn, der aus der Angst, auf uns selbst geworfen zu sein, kommt, revoltiert in den Organen, die, wie wir glauben, gekühlt im Vakuum rotieren und am schönen Anschein festgemacht sind. Nichts Größeres, heißt es, auf der Welt als ein Berg aus heißer Luft, in der sich die Broilerspieße der Epoche behäbig drehen; in jedem Hintern brennend ein Haken, der Gedanke an die Erlösung durch Sinn und Aufregung fern. Gut ist es, wenn man einen Hügel weiß, der das Wabern sanft übersteigt, und sei es die zweite Welle, die auf den Harz zuläuft, ein Wellchen, der Huy. Auf dem Huy herrscht noch, so will man glauben, eine andere, gehaltvollere Stille, hier lebt Olaf Wegewitz, zimmert, malt, zeichnet an seinen Mikrokosmen, die den Weg durch die Zeiten offenhalten. Was man, sei es durch die Kunst oder durch seine bloße Nennung, festsetzt, ist anwesend, unabhängig von seiner eigentlichen Zeit. So etwa formuliert Wegewitz das Credo; das Rascheln der Gegenstände ist durch die Zeiten existent und von ihrem Ausdruck und Status, der sich zufällig Gegenwart nennt, nicht getrennt. Die eigentliche Zeit ist keine andere als vor sechs oder acht Jahrhunderten, und dieselbe, jetzt, ehedem, ungeschieden. So nimmt es nicht wunder, daß der Künstler in diesem für heutige Blicke monumentalen Kaleidoskop die Naturalia Megenbergs teils bruchlos, teils gespiegelt fortschreibt und so ein Itinerar über die stetige Brandung der Ären hin schafft. Aber von vorn. Mikrokosmos. „Daz ist das puch der natur / oder uon den / natürlichen dingen.“ Das Sichtbare also, jenes, dem Menschen zu eigen, wenn er schweift, den Blick um sich dreht. Auch: was den Augen gefällt. Das Murmur – des Erwünschten. In einem weiteren Buch, dem Erbauungsbuch der Ebin Anders, ergänzt Wegewitz den Anspruch um die mystische Komponente. Wie die Handschrift von Megenberg, derer sich mikrokosmos bedient, stammt jene aus den Träumen und Visionen einer Nonne aus der reichen Wolfenbütteler Sammlung, die den Schatz des alten Wissens bis in die Gegenwart aufhebt. Beide Werke, gewissermaßen als Geschwister, fungieren als Werkzeuge einer schier selbstverständlichen Teleportation an die mageren Strände der Erwartung, die uns in diesen trüben Wochen und Jahrzehnten bleiben. Sie wirken, aus dem Stimmengewirr der sich schichtenden und richtenden Lagen aus Zeit, in den Bänderton unserer Blicke gebracht, wie aus dem Ganzen geschnitten, gegossen, ja, gewirkt. Bereits die Interieurs: eine grobe Fasrigkeit, die reiche Fülle zu bergen, hier; ein zartes Bündel, in Eisen gefaßt, dort; weist uns an die Gründe einer solchen Bewegung – das Umfassende zu hüllen nämlich und in Sicherheit zu bringen. Unsere Träume wie auch die Natur sind, beides zunächst als Allgewalten mißgedeutet, zerbrechlich unter dem Auge unserer kühnen Überheblichkeit. Es ist wie Lascaux zerlatschen mit unserer Zeit oder in der Grotte Chauvet randalieren: die beschuhten Füße schieben sich überreizt durch den uralten Schlamm, der die Fährten der Ahnen wie Schätze bewahrte, für das Jetzt bereithielt. Wir haben unser mikrokosmisches Gespür verloren, so scheint es. Den Gegenbeweis dafür tritt Olaf Wegewitz mit seinem Buch an. Oder er zeigt uns, wie dieser Gegenbeweis zu führen wäre. Wegewitz, der noch tatsächlichen Umgang mit den Dingen pflegt, Olaf Wegewitz betätigt sich als Abbildner und Fortschreiber dessen, was der Menschenwelt unterfüttert ist und zunehmend in einen Abyss aus Erklärungssuche und dem Aufgeben dessen, dass man im Einklang mit dem Hintergrundrascheln bleibt, gerät. Apfel und Fisch, Biene und Blume, die lufft und die Wurzel als das in den Erdschlössern schwebende Menschenhaupt sind die Orte und zugleich Ausgangspunkte dieser Erwägung. Das Rauschen der Dinge, die Mechanik des Kopfes. Das Schimmern des fortlaufenden Texts über der Zeit, in die Briquetagen des Wissens geformt, unseres Ahnungsvoll-Seins, luftig und schwer, ein verlöschender Segen, fahl, zwischen Irrlicht und gedimmter Vernunft. Dem Reichtum der Dinge, seien sie unbelebt oder belebt, auf der Spur, ihrem Flackern im Buch der Natur. Wegewitz – ein Tonsetzer des Sicht-, des Erklärbaren? Gewiß, das auch. Der Beseeltheit zudem, deren Erkenntnis den Menschen für ihr Fortkommen unerlässig sein wird. Mit der Akribie eines Naturbeschreibers faßt er das Wissen über die Textur der Gegenstände zusammen, liefert mit seinen Mitteln ein umfassendes Panorama ihrerselbst. Wir entkommen damit, und sei es nur für den Moment, da der mikrokosmos sich öffnet und uns in die Anderswelt unseres Eigentlichen einlädt, auf dem windigen Huy, in der Sichtung der restlichen Welt, der Camera silens der Zeit.